Spuren des Lebens
Lange galt nur das makellose Objekt als begehrenswert. Vielleicht ist es an der Zeit, umzudenken.

Ein Beitrag des Designjournalisten und Autors Gerrit Terstiege
Jeder Architekt ist sich beim Entwurf eines Bauwerks bewusst, dass er Bleibendes schafft: Ziel der Baukunst ist eine gestalterische und ästhetische Weichenstellung für Jahrzehnte. Doch so sehr ein Gebäude eine architektonische Vision formuliert, so sehr ist diese Vision als gebaute Realität Veränderungen unterlegen. Die Zeit hinterlässt Spuren: Auf diese Weise spiegelt ein Haus die Berührungen seiner Bewohner und das Wirken von Sonne, Wind und Regen wider. Man kann nun eine solche Patinabildung mit allen Mitteln bekämpfen – oder aber, was vielleicht viel weiser ist, bereits bei der Materialwahl das Moment des Alterns von Werkstoffen miteinbeziehen. Wie wäre es, gleich von Anbeginn ein patinafähiges Material zu wählen, von dem man genau weiß, wie es altern wird – und diesen Prozess ästhetisch zu nutzen? Neben bestimmten Natursteinen und Hölzern sind es gerade Kupfer und Messing, die auf ansprechende Weise altern, die Spuren des Gebrauchs auf attraktive Weise speichern und über die Jahre zu einer Umgebungssymbiose mit anderen verwendeten Materialien führen.
Für einen sehr feinsinnigen Umgang mit patinierten Materialien ist etwa der italienische Architekt Carlo Scarpa (1906–1978) bekannt. Zahlreiche Gebäude des gebürtigen Venezianers sind heute gefeierte Schmuckstücke der Lagunenstadt, legendär etwa sein Olivetti-Showroom oder seine kongenialen Eingriffe im historischen Gebäude der Fondazione Querini Stampalia. Ein solches Gebäude wird gerade durch die sich auf den Baustoffen abzeichnenden Spuren der Zeit schöner.

Nicht selten sprechen Architekten von der Ehrlichkeit eines Materials. In diesem Sinne ist die Echtheit eines Werkstoffs ein hohes Gut in der Architektur. Und eine Patina, die nicht von Vernachlässigung, sondern gerade von einem jahrelangen pfleglichen und sachgemäßen Umgang mit den Dingen herrührt, hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, gerade weil es auch die Umwelt schont, Dinge lange zu nutzen, statt in kurzen Zyklen zu denken.
Bilder
ganz oben: Der von Carlo Scarpa geschaffene Schriftzug am Showroom am Markusplatz. Die Seeluft trägt zur gewollten Oxidation des Messings bei.
oben: Der Handlauf an der Treppe zur Fondazione Querini Stampalia. Scarpa nutzte häufig klassische Materialien wie Messing und Holz.
links: Tasten einer Steel-Türstation in brüniertem Messing nach einigen Jahren im ungeschützten Außenbereich.
Über den Autor
Gerrit Terstiege studierte an der Köln International School of Design, war lange Jahre Chefredakteur der Designzeitschrift form in Basel und ist heute Gastprofessor an der Staatlichen HfG Karlsruhe. Terstiege ist Herausgeber von drei erfolgreichen Fachbüchern zur Theorie und Praxis des Designs und schreibt regelmäßig für die Zeitschriften Art, Domus, Frame, Hochparterre und Monopol.
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