Hüterin der Schwelle: Gabriele Siedle im Gespräch mit Nikolaus Kuhnert
Nikolaus Kuhnert ist Herausgeber und Chefredakteur der Zeitschrift ARCH+. Seit 2009 haben Siedle und ARCH+ eine enge Kooperation aufgebaut, die aus dem gemeinsamen Interesse für die Architektur der Schwelle entstanden ist. Angefangen hat die Zusammenarbeit mit dem Schwellenatlas. Darin publizierte ARCH+ erstmals einen umfassenden Überblick über Schwellenelemente in der Architektur, der auf Forschungsergebnissen von Wissenschaftlern der ETH Zürich basierte. Seit 2010 beteiligt sich Siedle als Initiativpartner an der Diskursplattform ARCH+ features, mit der junge innovative Büros vorgestellt werden.
Nikolaus Kuhnert: Frau Siedle, uns verbindet eine alte Liebe, und zwar die zur Schwelle. Es geht dabei um meist unbeachtete Übergangsphänomene, seien sie räumlich-architektonischer oder gesellschaftlich-kultureller Art. Implizit geht es dabei immer auch um das Regime der Kontrolle, um Inklusion oder Exklusion, um das Verhältnis zwischen Sicherheit und Zugänglichkeit und letztendlich um das große Thema der Kommunikation. Mit dem Schwellenatlas hat ARCH+ dem Thema eine Ausgabe gewidmet, deren inhaltliches Potenzial Sie damals sofort erkannt und persönlich unterstützt haben. Sie haben an dem Symposium an der ETH Zürich teilgenommen und sich für das Zustandekommen der ARCH+ features eingesetzt. Woher rührt dieses starke inhaltliche Interesse, das mir immer wieder an Ihnen aufgefallen ist? Das ist aus meiner Wahrnehmung im Unternehmensbereich etwas sehr Ungewöhnliches.

Gabriele Siedle: Es gibt manchmal schicksalhafte Begegnungen, die man nicht planen kann. Denn gerade als wir miteinander ins Gespräch kamen, hatten wir bei Siedle beschlossen, dass wir uns stärker mit dem Thema befassen und als „Hüter der Schwelle“ verstehen wollten. Diese Positionierung habe ich vorangetrieben, um innerhalb und außerhalb des Unternehmens ein Bewusstsein für die kulturelle Dimension unserer Arbeit zu entwickeln. Wir wollten erfahren, welche kulturgeschichtliche Bedeutung die Schwelle besitzt und wie sie sich in Zukunft verändern wird.

Nikolaus Kuhnert: Was passiert, wenn sich durch die Digitalisierung sowohl die Rolle der Kommunikation als auch die der Schwelle massiv verändert hat? Denken wir nur an die Gegensprechanlage, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Heute sind wir in der Lage, von überall per Smartphone den Zugang zu kontrollieren. Auch Siedle hat gerade ein IP-System entwickelt, das im Grunde die Kontrolle der Schwelle über das Internet ermöglicht. Ihre Welt in Furtwangen ist alos auch eine Welt der Hochtechnologie. Jetzt treffen Sie auf eine Veranstaltungsreihe, wo Architekten das Thema Schwelle weniger technisch, sondern vielmehr kulturell und sozial betrachten: Wir haben verschiedene Veranstaltungen über alternative Formen der Bauträgerschaft wie Baugruppen und Baugenossenschaften etc. durchgeführt. Aber wir haben auch Designer eingeladen, wie KRAM/WEISSHAAR oder den Münchener Designer Konstantin Grcic, der zusammen mit Muck Petzet den deutschen Pavillon auf der diesjährigen Architekturbiennale gestaltet hat. Sie sind also Innovationstreiber in Ihrem Produktsegment. Auf der anderen Seite sind Sie inhaltlich offen und suchen mit der gemeinsamen Veranstaltungsreihe nach kulturellen und sozialen Innovationen.

Gabriele Siedle: Das ist ja gerade das Wichtige und auch Interessante unserer Zusammenarbeit. Siedle hat eine technologische Basis geschaffen, die eigentlich alles ermöglicht. Das technische Know-how ersetzt aber nicht eine Unternehmensstrategie. Wir müssen uns vielmehr fragen, was der richtige Weg ist auf Basis dieser Technologie. Wo sieht die Gesellschaft die Schwelle der Zukunft? Fängt sie wirklich erst an der Tür an oder ist sie mehr in der Kommunikation zu sehen? Was ist außen, was innen, was ist privat, was öffentlich? In diesem Kontext müssen wir die Diskussion über das Technische hinaus führen, denn die neuesten Technologien nützen mir nichts, wenn ich keine Ideen für Produkte habe, die auf der Höhe der Zeit sind. Inzwischen ist mit den ARCH+ features eine ganze Diskursreihe erwachsen, in der Architekten und Gestalter nicht nur über architektonische Schwellenräume, sondern auch Schwellen in der Gesellschaft und in der Städtebaupolitik gesprochen haben. Wir haben die Reihe bisher intensiv begleiten dürfen und ich kann sagen, dass sich weitaus mehr für uns ergeben hat, als ich zu hoffen gewagt hatte. Rückblickend betrachtet, sind wir auf viele Fragestellungen gestoßen, die unseren Horizont erweitert und unsere Innovationsprozesse bereichert haben: Welche Bedeutung haben Schwellen in einer sich rapide verändernden Gesellschaft, die auch neue Formen des
Zusammenlebens hervorbringt? All das war in den Features wunderbar behandelt, und wir konnten uns dem Thema aus ganz anderen Blickwinkeln annähern. Wenn wir heute über Technologien und Zukunftsprodukte diskutieren, dann schauen wir uns nicht nur den Markt an und fragen uns, wo die Entwicklung hingehen könnte. Aufgrund der Zusammenarbeit mit Ihnen berücksichtigen wir nun auch soziale und kulturelle Aspekte in der Diskussion – auch, wie wir auf die ökologischen und gesellschaftlichen Bedingungen reagieren müssen. Ich denke da an die 15. Ausgabe mit Arno Brandlhuber und June 14, an der ich zuletzt in Berlin teilgenommen habe. Die Architekten haben im Kontext der Nachhaltigkeitsdebatte gefordert: reduziert euch wieder und lernt auf liebgewonnene Standards zu verzichten, baut mit dem Klima, baut kommunikativ.

Nikolaus Kuhnert: Nehmen wir das Thema der Baugemeinschaft, denn an ihm lässt sich die Frage des Übergangs gut veranschaulichen. Dabei spielt nicht nur der klassische Übergangsraum zwischen Eingangstür und Straße eine Rolle, sondern in der Regel versuchen Baugruppen ja den gemeinschaftlichen Anteil des Hauses auszubauen, was andere Schwellenräume nach sich zieht.

Gabriele Siedle: In dem Zusammenhang hat die Auftaktveranstaltung mit BARarchitekten und ihrem Projekt in der Oderberger Straße bei mir einen tiefen Eindruck hinterlassen. Die Architekten haben sich intensiv mit der gesellschaftspolitischen Entwicklung in Ballungszentren wie Berlin auseinandergesetzt. Dort spielen dann Dinge wie eine Garage oder das Auto als Statussymbol gar keine Rolle mehr. Sie müssen sich vielmehr mit den Bedürfnissen der berufstätigen, allein erziehenden Mutter beschäftigen. Es geht dabei um sehr pragmatische Erwägungen wie Stellplätze für Kinderwagen oder die Annahme von Post und anderen Lieferungen, wenn niemand zu Hause ist. Das erfordert neue Formen von Schwellenelementen, wie beispielsweise Briefkästen, die durch Codes zu öffnen sind, oder Aufbewahrungsfächer, die Lieferungen in Abwesenheit ermöglichen. Das wäre dann eine Zwischenschwelle zwischen öffentlichen, halböffentlichen und privaten Räumen. Das wunderbare Projekt von BARarchitekten hat mich in der Intention bestätigt, dass wir den Dienstleistungsgedanken für berufstätige Menschen viel mehr unterstützen müssen.
Das trifft auch auf Lösungen für gemeinschaftliche Bereiche zu, über deren Nutzung die Bewohner miteinander kommunizieren müssen. Diese Räume könnten z.B. über eine kommunikative Schnittstelle gebucht werden. Aber dann brauchen wir vielleicht nicht mehr die klassische Kamera an der Tür, sondern andere, abgestufte Schwellen, die die neuen räumlichen Übergänge zwischen privat, gemeinschaftlich und öffentlich besser verzahnen.

Nikolaus Kuhnert: Wir bewegen uns also von der alten Türschwelle zu Fragen der Organisation und der virtuellen Welt. Was gleich bleibt, ist das Sicherheitsbedürfnis der Menschen.

Gabriele Siedle: Unsere Firma steht für Sicherheit und da müssen wir gewährleisten, dass unsere Produkte nur Befugten das Überschreiten der Schwelle erlauben. Dabei soll nicht die Technik den Menschen dominieren, das ist die große Herausforderung. Auch das haben wir bei der Veranstaltung in der St. Agnes-Kirche von Arno Brandlhuber gelernt, der sagte, hört endlich auf, auf eine komplexe Technologie noch eins draufzusetzen. Auf unsere Arbeit übertragen hieße das: Besinnt euch wieder auf die Grundfunktionen. Wir können heute virtuelle und berührungslose Schwellen realisieren, aber in der Realität wollen die Menschen das vielleicht gar nicht. Sie wollen einfach eine Tür schließen. Die Veranstaltungen mit Ihnen geben uns die Möglichkeit, darüber zu philosophieren, zu diskutieren und all das einzuschätzen. Und dann gehen wir nach Hause in den Schwarzwald und versuchen, diese Überlegungen in unseren Innovationsprozess einfließen zu lassen.
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