Bestand und Beständigkeit
Die Umnutzung wird zum Hauptarbeitsfeld des Architekten

Ein Kommentar von
Anh-Linh Ngo
Als „Reduce/Reuse/Recycle“, der deutsche Beitrag zur Architekturbiennale 2012, im Rahmen der von Siedle mitinitiierten Diskursreihe „ARCH+ features“ in Venedig vorgestellt wurde, beschrieb Muck Petzet, der Münchner Architekt und Generalkommissar des deutschen Pavillons, die Intention des Beitrags wie folgt: „den Gebäude- und Infrastrukturbestand als zentrale architektonische Ressource für die Gestaltung unserer Zukunft bewusst machen.“

Damit vertritt er eine Sichtweise, die Architektur und Stadt als „energetische“ Ressource definiert. Der Energiebegriff ist hier allerdings weiter gefasst. Einerseits geht es um die physikalischen Aspekte, nämlich die „graue Energie“, die in der gebauten Umwelt gespeichert ist. „Aber der Wert eines Gebäudes ergibt sich“, so Petzet, „neben den physikalischen und ökonomischen Komponenten auch aus immateriellen Dingen, wie z.B. dem sozialen Kontext, den es beinhaltet, oder der Geschichte, die das Vorhandene vermittelt, oder den Gefühlen, die es auslöst.“ Mit diesem kulturellen Verständnis von Nachhaltigkeit überwindet er nicht nur die technische Vereinseitigung der Nachhaltigkeitsdebatte, er lässt auch den konservierenden Ansatz der Denkmalpflege hinter sich.

In der Ausstellung war auch das Projekt Brunnenstraße des Berliner Architekten Arno Brandlhuber vertreten, der mit dem Weiterbau einer Investorenruine ein international beachtetes Werk schuf. Brandlhuber, der mit seinen stadtpolitischen Interventionen in Berlin zu den führenden Köpfen der Nach- Stimmann-Ära zählt, führt mit seinem jüngsten Projekt, der Antivilla, die Argumentation von Muck Petzet weiter.

Für Brandlhuber liegt der Denkfehler bei der energetischen Sanierung darin, dass „man die Aufwandsenergie z. B. zur Dämmstoffherstellung oder den Transport außer Acht lässt. Zudem geht die Energieeinsparverordnung davon aus, dass das gesamte Gebäude als Innenraum unabhängig von den Jahreszeiten als warmes Gebäude verwendet wird und dabei festgelegte Standardraumtemperaturen herrschen“. Anstelle der üblichen Dämmschichten, die einen einheitlichen Innenraum und eine uniforme Nutzung implizieren, gliedern Vorhangschichten im Winter den großen Wohnraum in einzelne Zonen, die unterschiedlich temperiert sind. Diese Entscheidung hat zur Folge, dass man „das eigene Nutzerverhalten an die klimatische Situation anpassen muss, anstatt die Situation als durchgängigen Standard anzunehmen“.
Diese Einsicht wird immer relevanter, weil „das Hauptarbeitsfeld des Architekten heute und in Zukunft nicht der Neubau, sondern die Umnutzung ist“, so Brandlhuber. „Da schon soviel Grauenergie im Bestand gebunden ist, sind Umnutzungsstrategien, die den energetischen Aspekt mit einer gesellschaftlichen Betrachtungsweise verbinden, besonders entscheidend für die Zukunft der Architektur.“ Das Bauen im Bestand gewinnt damit eine gesellschaftspolitische Dimension, die vor einem falsch verstandenen Traditionalismus schützt und Bestand und Beständigkeit eine fortschrittliche, eine soziale Bedeutung zuweist.

Muck Petzet sieht darüber hinaus gerade in der Auseinandersetzung mit dem Bestehenden ein enormes kreatives Potenzial: „Durch das Weiterschreiben entstehen eine Dichte, eine tiefere Schicht und eine Reibung, die das Vorhandene bereichern können.“ Für den Designer Konstantin Grcic, der mit Muck Petzet den Deutschen Pavillon gestaltet hat, ist dabei auch der Ansatz von Bedeutung, „dass es in der Gestaltung nicht darum geht, die Dinge immer wiederneu zu erfinden, sondern die Qualitäten der bereits existenten und funktionierenden Dinge zu pflegen und sie weiterzuentwickeln.“

Damit führt Grcic die Debatte über den Architekturdiskurs hinaus und formuliert einen gestalterischen Ansatz, der für Unternehmen wie Siedle vor dem Hintergrund des rasanten technologischen Fortschritts immer relevanter wird: Wenn das Neueste morgen wieder passé ist, muss Gestaltung die Lebenszyklen, das heißt, die Kompatibilität und Nachrüstbarkeit der einzelnen Produkte sowie deren Lebensdauer, stärker berücksichtigen. Produktentwicklung wird so zu einem evolutionären Prozess und die gestalterische und technische Nachhaltigkeit zum Selbstverständnis des Designs.

Über den Autor
Der Architekt Anh-Linh Ngo ist Redakteur der internationalen Architekturzeitschrift ARCH+. Er ist Mitinitiator und Ko-Kurator verschiedener Ausstellungs-, Forschungs- und Veranstaltungsprojekte im Kontext aktueller Architekturthemen, u.a. zur Teilnahme von ARCH+ an documenta 12 magazines sowie bei der Umsetzung des ARCH+ „Schwellenatlas“, der in Kooperation mit der ETH Zürich entstand.
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